von Esther Hattenbach und Bettina Jantzen
Nur wenige Stunden nach dem Mauerfall im Herbst 1989 erlebt Carl, ein junger Mann, wie seine sicher geglaubte Familie auseinandergesprengt wird. Plötzlich gehört selbst das geliebte Familienradio – das Stern 111 – zu einem alten, vergangenen Leben. Carls Eltern Inge und Walter flüchten mit nur wenigen Habseligkeiten Richtung Westen. Auf ihrem Weg durch Notaufnahmelager und zu verschiedensten Durchgangsstationen verfolgen sie offenbar einen lang gehegten Traum, von dem selbst Carl nichts Genaues weiß. Er träumt davon, Dichter zu werden, und geht in den Osten Berlins. Hier erlebt er eine Zeit voller Anarchie, ungeahnter Freiräume und wilder Kreativität. Als gelernter Maurer wird er Teil einer Gruppe von Menschen, die in einer Art Guerillakampf leerstehende Häuser in Obhut nimmt und eine Kellerkneipe eröffnet. Ihr Versuch ist es, dem Kapitalismus, der mit ganzer Wucht alles Bisherige zu verändern droht, eine Alternative entgegenzusetzen. Während Inge und Walter ihre ostdeutsche Identität verleugnen oder abstreifen wollen, findet Carl Schritt für Schritt zu dem, was und wer er selbst sein will. Sogar dem Elternrätsel kommt er auf die Spur und beginnt zu ahnen, wofür der Stern 111 in ihrem Leben steht.
Der Theaterabend nach Motiven des 2020 erschienenen großen poetischen Romans von Lutz Seiler eröffnet einen fesselnden Erinnerungsraum aus Carls Perspektive. Seine Bilder sind detailgenau und berührend, manchmal assoziativ und bruchstückhaft. Und da ist dieser ganz besondere Sound des radikalen Umbruchs und der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten am Anfang der 1990er Jahre.